30 Patienten und 100 Anrufe am Tag: Wieso Solothurner Hausärzte an der Belastungsgrenze sind
Eine Studie zeigt: In den nächsten zehn Jahren werden 56 Prozent der Hausärztinnen und -ärzte pensioniert sein. Bereits heute aber ist die Versorgungslage angespannt. «Mir tun die Leute leid, die wir täglich abweisen müssen», sagt Cornelia Meier, Co-Präsidentin der Solothurner Ärztegesellschaft.

Sie sind praktizierende Hausärztin. Platzt Ihre Praxis aus allen Nähten?
Cornelia Meier: Wir sind zu dritt in einer Gemeinschaftspraxis. In der Regel sehen wir pro Arzt 30 oder mehr Patienten im Tag. Dazu kommt der Durchlauf von Patienten, die spontan kommen und Fragen stellen. Die Praxisassistentinnen bearbeiten um die hundert Anrufe pro Tag. Also ja, wir sind an der Grenze von dem, was wir leisten können.
Können sie das alles während ihrer normalen Arbeitszeit stemmen?
Das ist genau der Punkt: Was ist die normale Arbeitszeit eines Hausarztes? Wir haben die Praxisöffnungszeiten, während denen wir die Sprechstunde führen. An den Abenden, Wochenenden und Feiertagen räumen wir dann auf, wozu wir nicht gekommen sind. Bereits jetzt sitzen wir abends noch ein, zwei Stunden am Computer und schreiben Berichte, beantworten E-Mails oder Anfragen von Versicherungen. Daneben sind wir zu den Notfalldiensten verpflichtet, welche wir in der Notfallpraxis am Spital leisten und jeweils tagsüber zusätzlich während der Sprechstunde erfüllen.
Das klingt sehr anstrengend. Wollen deshalb immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung arbeiten?
Die Work-Life-Balance und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind Themen, die der heutigen Generation wichtig sind. Die meisten arbeiten nicht mehr im Vollzeitpensum. Die Arbeitsbelastung, das Tragen von Verantwortung und der bestehende Einkommensunterschied im Vergleich zu anderen Ärzten sind weitere Gründe.
Wie ist es bei Ihnen? Arbeiten Sie Vollzeit?
Ich arbeite 60 Prozent in der Praxis. Die restlichen Prozente sind mit meinem Engagement im Co-Präsidium der kantonalen Ärztegesellschaft, als Delegierte des Kantons für die Belange der medizinischen Praxisassistentinnen (MPA), in der kantonalen Prüfungskommission und weiteren Beschäftigungen gefüllt.
Dann verdienen Sie aber auch viel Geld damit?
Unser Verdienst ist sicher nicht schlecht, doch wenn man es mit diesen zusätzlichen Arbeitszeiten neben der Sprechstunde auf die Stunden herunterbricht, dann sieht es nicht mehr so glänzend aus.
Wie kann das sein?
Unsere Tarife wurden in den letzten Jahren wiederholt gesenkt und Leistungen in der Anzahl limitiert. So kann zum Beispiel nur noch eine Sprechstundendauer von 20 Minuten abgerechnet werden. Wir diskutieren ja gerade jetzt wieder über die Krankenkassenprämien und die Kosten im Gesundheitswesen.
Gibt es denn neben der mangelnden Attraktivität des Berufs weitere Gründe für den Hausarztmangel?
Wenn man sieht, wie viele Ärzte aus dem Ausland rekrutiert werden, kann man klar sagen, dass in der Schweiz zu wenig ausgebildet wird. In der Schweiz haben wir den Numerus clausus. Dieser wurde eingeführt, da es zu viele Anwärter auf die wenigen Studienplätze gab. Dazu kommt, dass viele junge Ärzte Angst vor dem Wagnis der Selbstständigkeit haben. Wir sind letztlich Unternehmer, aber in der Ausbildung werden weder Betriebs- noch Personalführung eines KMUs behandelt. Hinzu kommt, dass es für die Eröffnung einer eigenen Praxis ein gewisses Eigenkapital braucht. Man steht dann mit dreissig Jahren vor einer Aufwendung von einer Million Franken oder mehr.
Wie kommen diese hohen Aufwendungen zustande?
Je nach Zustand der Infrastruktur bei einer Praxisübernahme steht man vor grossen Investitionen. Schon nur die Digitalisierung von Papier-Krankengeschichten kostet nicht nur sehr viel Geld, sondern auch Zeit. Das sind Belastungen, die man dann nach 30 auch erst einmal abarbeiten muss.
Was bedeutet der Hausarztmangel für die Patientinnen und Patienten?
Wir werden täglich mit Anfragen von neuen Patienten und Patientinnen konfrontiert, welche wir aus Kapazitätsgründen nicht mehr betreuen können. Da hören wir Geschichten von frustrierten, erfolglosen Suchen über Wochen und Monaten. Was bleibt ihnen übrig? Früher oder später landen sie in ambulanten Notfallstationen, die im Moment auch total überlaufen sind.
Was ist denn an einer Notfallstation auszusetzen? Müsste man nicht diese ausbauen?
Es gibt viele Leute, gerade mit chronischen Erkrankungen, die eine regelmässige Betreuung brauchen. Denen ist nicht geholfen, wenn sie immer wieder auf dem Notfall landen und immer von anderen Ärzten behandelt werden. So besteht die Gefahr von wiederholten unnützen Untersuchungen. Ein Hausarzt, der sie und ihr Umfeld gut kennt, kann gemäss Studien 80 Prozent der Probleme direkt lösen.
Was müsste jetzt passieren, dass der Hausarztmangel behoben oder zumindest gebremst werden könnte?
Man muss die angehenden Ärztinnen und Ärzte schon früh in der Ausbildung mit der Hausarztmedizin konfrontieren. Fehlt das fundierte Teaching in der Ausbildung, weil alle überlastet sind, ist das für die Assistenzärzte nicht nur frustrierend, sondern kann auch zu gefährlichen Situationen führen. Zudem müssten die Grundbedingungen verbessert werden. Gemeinden könnten angehende Hausärzte in der Infrastruktur unterstützen, um einen Praxiseinstieg zu erleichtern. Neben der Work-Life-Balance müssten sicher auch die Themen Tarife, Kosten und Löhne angegangen werden.
Wenn ich in zehn Jahren krank werde, wo gehe ich effektiv hin? Gibt es noch einen Dorfarzt, gehe ich in eine Gruppenpraxis oder mache ich das per Videocall?
Da ist alles möglich. Da müsste ich eine gut polierte Kristallkugel haben. Geht der Trend mit der Schliessung von Hausarztpraxen ohne Nachfolge weiter, landen Sie vielleicht in einer vom Spital betriebenen Walk-in-Praxis. Wir bewegen uns damit weg von der persönlichen Betreuung durch den Arzt Ihrer Wahl hin zu einer Behandlung in sogenannten integrierten Versorgungsmodellen. Die Behandlung in einer solchen Praxis mit häufig wechselnden Ärzten ist weniger kosteneffizient und deutlich unpersönlicher.
Sind dann Sie unter diesen Umständen noch gerne Hausärztin?
Mir tun die Leute leid, die wir täglich abweisen müssen. Mir macht aber der Job trotz gestiegener Arbeitslast noch immer Freude. Es ist eine sehr abwechslungsreiche Arbeit mit vielen Facetten, die ein Facharzt ohne diese enge Patientenbindung über Jahre hinaus nicht so erlebt. Wir bilden in der Praxis auch Studentinnen und Studenten aus. Da fliesst viel Herzblut hinein.
Was möchten Sie dem Nachwuchs ganz kurz mitgeben?
Ich kann mich nur wiederholen: Es ist der schönste Job, den ich mir vorstellen kann, der aber Elan, Begeisterung und ein bisschen Biss braucht. Es wäre schön, wenn die Politik das zu Gunsten der Patienten auch unterstützen würde.


