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«Ich würde hier kopfvoran herausfallen»: Die Hälfte der Aargauer Bahnhöfe sind nicht behindertengerecht – unterwegs mit einem Rollstuhlfahrer

Bis Ende 2023 muss laut Bundesgesetz der öffentliche Verkehr für Menschen mit Behinderung selbstständig nutzbar sein. Nun wird klar: Die Bahnbetreiber erreichen diese Vorgabe nicht. Die AZ hat einen Rollstuhlfahrer auf einer beschwerlichen Reise durch den Aargau begleitet.

-Text. Felix Ott, Bilder: Mathias Förster

Gemächlich fährt Markus Köhle die Rampe zum Perron am Bahnhof Muri hinauf. Sein elektrischer Rollstuhl summt leise. Mit der Steigung hat sein Gefährt kein Problem. «Mit einem handbetriebenen Rollstuhl muss man hier ordentlich Muskeln haben», sagt der 56-Jährige. Er positioniert sich zwischen Geländer und Perronkante. Ungefähr hier werde der Behinderteneingang sein, sobald der einfahrende Zug zum Stehen kommt.

Und tatsächlich: Der Zug bremst, es quietscht und die Türe befindet sich keine zwei Meter entfernt. Seit 2015 sitzt Köhle aufgrund einer MS-Erkrankung im Rollstuhl. Seither sind Reisen für ihn schwierig geworden. Doch der Bahnhof in seinem Heimatdorf Muri ist ein Vorzeigeobjekt. Hier kann er sich autonom bewegen, wie es das Behindertengleichstellungsgesetz verlangt.

Worum geht es beim Behindertengleichstellungsgesetz?

Das Behindertengleichstellungsgesetz hält fest, dass der öffentliche Verkehr spätestens bis Ende 2023 barrierefrei und damit für Behinderte grundsätzlich autonom nutzbar sein muss. Für die Umsetzung müssen die Transportunternehmen und Infrastrukturbetreiber ihre Bahnhöfe, Haltestellen und Fahrzeuge so umgestalten, dass Behinderte diese selbstständig nutzen können. Bei rund 540 der insgesamt 1800 Schweizer Bahnhöfe werden die Unternehmen die baulichen Massnahmen allerdings erst 2024 oder später umsetzen. Bis zum Abschluss der Umbauten müssen die Unternehmen Überbrückungsmassnahmen in Form von Fahrdiensten oder Hilfe durch das Personal anbieten.

Doch längst nicht alle Bahnhöfe werden die Vorgaben des Bundesgesetzes erreichen. Von insgesamt 65 SBB-Bahnhöfen im Kanton Aargau werden bis Ende 2023 gerade einmal 35 barrierefrei sein. Dies, obwohl die ÖV-Betreiber 20 Jahre Zeit hatten, um ihre Infrastruktur behindertengerecht zu gestalten.

Diesen Umstand bereuten die SBB sehr, schreibt die Medienstelle auf Anfrage. Die Umsetzung habe sich als komplexer erwiesen als zunächst geplant. Zudem mussten schweizweit mehr Bahnhöfe umgebaut werden als ursprünglich angenommen – über 400 Bahnhöfe statt 150.

Wenige Zentimeter machen den Unterschied

Doch auch am barrierefreien Bahnhof Muri wackelt und schüttelt Köhles Rollstuhl stark, als er über das Trittbrett in den Zug rollt. Es ist ein ruhiger Morgen. Die Pendlerströme sind vorbei und es sind nur wenig Reisende unterwegs.

«Nächster Halt: Sins», verkündet die Durchsage. Eigentlich war geplant, hier auszusteigen. Doch es gibt einen Haken: Zwar öffnet sich die Tür und das Trittbrett fährt aus, doch zwischen dem Ausstieg und der Perronkante liegen 15 Zentimeter. Gemäss Website der SBB ist dies ein barrierefreier Bahnhof – jedoch nur auf Gleis 2. Auf diesem Gleis kann Köhle nicht aussteigen. «Ich würde hier kopfvoran aus dem Rollstuhl fallen.»

An solchen Bahnhöfen, die bis Ende 2023 nicht vollständig barrierefrei zugänglich sind, böten die SBB vorübergehend Überbrückungsmassnahmen an, schreibt die Medienstelle. Insbesondere helfe das «Call Center Handicap», Zugreisen zu planen. Vor Ort helfe das Bahnpersonal beim Ein- und Aussteigen. Zudem werden Fahrdienste angeboten.

Die Türe schliesst sich wieder und die Reise geht weiter Richtung Rotkreuz. Köhle nutzt die Weiterfahrt, um zu zeigen, wie er in die Zugtoilette kommt – oder eben gerade nicht. Die schwere Schiebetür bekommt er sitzend kaum auf. Danach muss er sich umdrehen, um rückwärts hineinzufahren.

In diesem Moment fällt die Türe langsam zu und der Rollstuhl wird eingeklemmt. Auch wenn die Türe offen bleiben würde, liesse sie sich nicht mehr schliessen, da er nicht weit genug hinein kommt.

«Nächster Halt: Oberrüti.» Keine Chance, hier aus dem Zug zu kommen. Das Problem ist das Gleiche: Die Perronkante ist zu tief. Ein paar Reisende steigen ein und Köhle begrüsst sie lächelnd. In Rotkreuz angekommen, kann er problemlos, wenn auch wackelig, hinausfahren. Der Zug hält hier 18 Minuten, bevor er wieder in die Gegenrichtung fährt. Also nutzt er die Zeit, um ein Problem an diesem Bahnhof zu demonstrieren. Er rauscht die Rampe in die Unterführung hinunter.

Andere Reisende machen sofort Platz, wenn sie ihn sehen. Freundlich grüsst er sie. Zum Gleis 1 führt ein Lift. Zwei Personen steigen vor ihm ein. Ein kurzes Gespräch ergibt sich. Oben angekommen, könnte er laut SBB direkt in den Zug fahren. Doch die Spalte zwischen Perronkante und Trittbrett ist zu gross. Seine Vorderräder könnten darin stecken bleiben. Dabei käme er ohne die Unterstützung vieler Helfer nicht wieder frei. Denn sein Rollstuhl alleine wiege knapp 200 Kilogramm, sagt Köhle.

Die Perronanlagen der SBB würden gemäss Normen gebaut, die in der Eisenbahnverordnung des Bundesamtes für Verkehr festgehalten sind, erklärt die Medienstelle. Eine «P-55-Perronkante» gelte als barrierefrei. Alle Umbauarbeiten werden von einem Vermessungsteam begleitet, damit die Masse eingehalten werden.

Sich für Menschen ohne Stimme einsetzen

Wenn Köhle solche Probleme auffallen, macht er ein Foto und wendet sich an die SBB. Man kenne ihn beim Callcenter, sagt er. Lange Wartezeiten sei er dabei gewohnt. Immer wieder trägt er die Missstände an die Bahnbetreiber heran. «Ich kann einfach nicht aufs Maul sitzen.»

Dabei gehe es ihm weniger um sich selber. Es gebe schliesslich auch Menschen mit Behinderungen, die nicht sprechen oder sich sonstwie wehren könnten. «Auch ältere Menschen mit Rollatoren, Familien mit Kinderwagen oder Leute mit viel Gepäck sollten doch bequemer reisen können.»

Auch wenn die Mitarbeiter beim «Call Center Handicap» immer freundlich seien, bekomme er von den SBB immer wieder abschlägige Antworten, warum gewisse Stellen nicht barrierefrei seien. Beim Gleis 1 in Rotkreuz sei die Antwort lediglich gewesen, dass der Einstieg laut Computersystem für Rollstühle durchaus befahrbar sei, sagt Köhle.

Die Medienstelle der SBB schreibt zur Situation beim Gleis 1 in Rotkreuz: «Die Rückmeldung des von Ihnen erwähnten Kunden nehmen wir ernst, unsere Fachleute prüfen dies.»

Nun wird es Zeit, den anderen Zug zu erwischen. Köhle fährt erneut in den Aufzug. Dieser wurde in der Zwischenzeit rege benutzt. Dreimal wurden Kinderwagen hoch- und runter-gefahren, während der Rollstuhlfahrer das Problem am Bahnsteig erklärt hat.

Mühelos saust er erneut durch die Unterführung, die Rampe hinauf und wieder etwas wackeliger in den Zug. Nun geht es auf derselben Strecke bis nach Lenzburg.

Unterwegs verkündet die Durchsage erneut: «Nächster Halt: Sins.» Aus dieser Richtung könnte Köhle selbstständig aussteigen. Die Türen öffnen sich auf dem barrierefreien Gleis 2. Wenn er also von Muri nach Sins reisen möchte, muss er jeweils den Umweg über Rotkreuz machen und dort 18 Minuten warten. Erst dann kann er am Zielbahnhof aussteigen. Für den Umweg brauche es dann wohlgemerkt auch noch ein Billett, sagt Köhle.

SBB bieten bedingt Vergünstigungen und Hilfestellung

Zwar bieten die SBB ein vergünstigtes Generalabonnement für Menschen mit Behinderung an. Zudem darf immer eine Person kostenlos mitreisen. Da er nicht mehr so viel Zug fahre, lohne sich für ihn ein GA aber nicht mehr, sagt Köhle. Auf das Halbtax und auf reguläre Tickets erhält er dagegen keine Vergünstigung.

Heute geht die Reise weiter. Köhle hat in Lenzburg einen Mobilift bestellt, um aus dem Zug geladen zu werden. Da es ein sogenannter Stützpunktbahnhof ist, können dort Personen mit Behinderungen ein- und aussteigen, auch wenn die Perrons nicht barrierefrei sind. Die SBB müssen aber eine Stunde voraus informiert werden, wenn jemand den Service nutzen möchte. Das schränke die Reisefreiheit doch stark ein, findet Köhle.

Das Reisen sei stets mit viel Planung verbunden. Auch spontanes Umsteigen sei trotz Hilfestellung nur mit langen Wartezeiten möglich. Zuerst muss der Mobilift bestellt werden, dann ist der Treffpunkt für den Verlad immer zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges. Kaum eine Verbindung würde eine Umsteigezeit von mehr als zehn Minuten einrechnen, erklärt Köhle.

Als der Zug in Lenzburg einfährt, steht der SBB-Mitarbeiter in der Warnweste bereits mit dem gelben Lift am Bahnsteig. «Den kenne ich bereits, er ist nicht sehr gesprächig», sagt Köhle. Als sich die Türe öffnet, hebt der Angestellte den Mobilift auf 30 Zentimeter, damit der Rollstuhl hineinfahren kann. Zwei Schritte zurückgesetzt setzt ihn der Mitarbeiter wieder ab. Köhle bedankt sich freundlich und saust die Rampe zur Unterführung hinab.


-Ursprünglich publiziert in der Aargauer Zeitung vom 8. April 2023.

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