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Die verborgene Welt im Untergrund: In der Aargauer Kanalisation fliegen auch Drohnen

Was passiert mit dem Geschäft nach der WC-Spülung? Der Leiter des Abwasserverbandes Region Baden-Wettingen führt die AZ durch das unterirdische Labyrinth der Kanalisation.

Text: Felix Ott, Bilder Alex Spichale

Bevor das Wasser in diesen Sammelkanal fliesst, muss es aber einige Hürden überwinden. An einem sonnigen Morgen führt der Geschäftsleiter des Abwasserverbandes Region Baden Wettingen (ABW), Thomas Schluep, durch die geheime Welt unter der Oberfläche. Er zeigt dem AZ-Reporter den Weg des Wassers, von der WC-Spülung bis in die Limmat.

Zwei Millionen Liter unter dem Tägipark

Die Reise startet bei einem unscheinbaren, kleinen Gebäude neben dem Tägipark in Wettingen. Ein kleiner Würfel aus Waschbeton ohne Fenster. Eine Tür führt in den Untergrund. Ein Stockwerk tiefer befindet sich ein Kontrollraum. Dahinter öffnet sich ein gewaltiges Gewölbe. Es handelt sich um ein Regenbecken. Solche sind überall im Kanton verteilt.

Wenn dem Abwassernetz die Überlastung droht, wird darin überschüssiges Strassenabwasser gespeichert – hier hat es Platz für 2 Millionen Liter. Bei Regenfällen füllt sich das Klärbecken komplett. Am Ende befindet sich eine Überlaufkante, die bei starken Niederschlägen das zusätzliche Regenabwasser grob gereinigt in die Limmat leitet.

Hier ist Dieter Widmer, Siedlungsentwässerungsexperte der Gemeinde Wettingen, zuständig. Denn um das Wettinger Abwasser kümmert sich grundsätzlich die Gemeinde. Thomas Schluep und sein Team vom ABW übernehmen das Abwasser erst ab den Sammelkanälen und erledigen die Unterhaltsarbeiten. «Das Tödibecken ist das grösste der Gemeinde und wurde erst vor kurzem saniert», erklärt Widmer. Vor vier Tagen war das Becken in der Grösse einer Turnhalle noch randvoll, heute ist es leer. Zwei Mitarbeiter vom ABW sind dabei, das Becken zu reinigen.

Abfall wird einfach runtergespült

Die Böden werden mit Hochdruck abgespritzt, um abgesetzte Schlammreste zu lösen. Denn das Becken speichert nicht nur das Wasser, sondern reinigt es auch vor. Feststoffe sammeln sich am Boden, während sauberes Wasser über den Entlastungsstollen in die Limmat fliesst. Damit sich der Schlamm am Boden nicht festsetzt, halten kleine Rührwerke das Wasser am Boden in Bewegung. Auch hier stinkt es nicht. Es riecht lediglich erdig, nach Schlamm.

Besonders die Sanierung des Entlastungskanals war eine aufwendige Aufgabe. Dieser ist gerade einmal hüfthoch. Darin mussten Arbeiter die Armierungseisen freilegen, ausbessern und teilweise ersetzen – alles auf den Knien hockend. «Die Gemeinde Wettingen hat für die Sanierung um die zwei Millionen Franken investiert», so Widmer.

Ein Arbeiter, der gerade das Becken spült, streckt die offene Hand entgegen und sagt: «Manche Leute denken, der einfachste und schnellste Weg zur Entsorgung sei die WC-Spülung.» Auf seiner Handfläche liegt eine Rasierklinge – nicht nur für Arbeiter gefährlich, sondern auch für die Amphibien, die sich oft in Regenbecken verirren.

Stalaktiten hängen von der Decke

Vom Regenbecken fliesst das abgesetzte, verschmutzte Wasser in einen Sammelkanal. Unterwegs kommt weiteres Haushaltsabwasser der Bewohner Wettingens hinzu. Über viele Kilometer fliesst die Brühe unterirdisch. Aufgrund des schwierigen Terrains müssen Höhen mittels Fallschächten und Pumpwerken überwindet werden. Bei der Standseilbahn Webermühle in Wettingen befindet sich ein solcher Fallschacht.

Am idyllischen Limmatufer führt ein unscheinbares Metalltor unter die Erde. Nun wird es Zeit für Taschenlampen und Schutzhelme. «Hier ist besondere Vorsicht geboten. Es hat teilweise Löcher im Boden», sagt Schluep. Ein Rauschen ertönt aus der Ferne. Bis auf einige Betonelemente wirkt es nicht, als wäre der Stollen menschgemacht. Stalagmiten und Stalaktiten bilden sich von den Böden und Decken. Am Boden liegt eine tote Ratte.

Nach ungefähr hundert Metern sieht man die Ursache des Rauschens. Hier stürzt das Abwasser über Stufen rund 30 Meter einen Schacht hinab in den Sammelkanal. Zwar ist der Geruch hier schlimmer als im Regenbecken, doch nach Fäkalien riecht es noch immer nicht.

Von hier aus fliesst das Wettinger Abwasser in Richtung Baden und danach zur Abwasserreinigungsanlage (ARA) in Turgi. Doch damit es ungehindert durch den Untergrund fliessen kann, sind einige Unterhaltsarbeiten in den Kanälen nötig.

Der Einstieg in den Kanal ist knifflig

Nach einer kurzen Autofahrt wird Material gefasst: Gummistiefel, Einwegkombis, Klettergurt, Schutzhelm, Handschuhe und eine Taschenlampe. Vollgepackt geht es in Richtung Limmatpromenade. Gerade ist die Firma ITS Kanal Services dabei, eine Zustandskontrolle des Sammelkanals durchzuführen. Hier geht es erneut in den Untergrund – diesmal durch einen schmalen Kanaldeckel.

Für Ungeübte ist der Einstieg knifflig. Gerade einmal die Fussspitze passt zwischen die kleinen Sprossen der Leiter im Zugang. Danach muss man auf die Mauer im Kanal stehen und über einen reissenden Strom in die weniger durchflutete Rinne steigen.

Das Abwasser reicht hier bis über den Knöchel. Vorsichtige Schritte sind nötig, damit es nicht in die Stiefel schwappt. Der Boden ist uneben, Kies und Geröll erschweren das Gehen. Laut Schluep ein häufiges Problem. Bei Bauarbeiten landen immer wieder Betonbrocken oder auch Bohrkerne in der Kanalisation. In solchen «Findlingen» und Kies würden sich Abfälle verfangen und das Wasser aufstauen, erklärt er.

Verschiedene Mittel zur Kanalinspektion

Etwa 30 Meter den Kanal hinunter stehen zwei Arbeiter. Jeder in einer Rinne des Kanals, der durch eine niedrige Mauer zweigeteilt ist. Sie beurteilen gerade den Zustand der Wände. Auf der Trennmauer in der Mitte steht ein Wagen, mit dem die zurückgelegte Strecke gemessen wird. Einer der Mitarbeiter fotografiert die kritischen Stellen mit einem Tablet und trägt die Messdaten ein.

Dies ist die aufwendigste, aber auch genaueste Methode zur Zustandsbeurteilung. Ein schnellerer Weg, der aber weniger genau ist, ist das Filmen des Kanals mit einer Drohne. Zwei Einstiege weiter, Richtung Badener Altstadt, hat ITS Kanal Service bereits eine «Fly Zone» eingerichtet. Die Kanalfirma setzt dort eine Drohne ein, die eigens für Orte entwickelt wurde, die normalerweise für Menschen nicht erreichbar sind.

«Die Drohne ist mit einer Hobbydrohne nicht vergleichbar», erklärt Fabian Murmann, der Pilot von ITS Kanal Service. Sie ist ausgestattet mit schnelleren Rotoren, die die Drehrichtung ändern können, einem Käfig, der vor Zusammenstössen schützt und einer Kamera mit 4K-Auflösung. Doch leider halte der Akku nur sehr kurz, sagt Murmann.

Die klassische und wohl bekannteste Methode zur Kanalinspektion ist das Kanalfernsehen. Der Fernsehwagen ist an einem weiteren Kanaleinstieg parkiert. An einem Kabel ist ein ferngesteuertes Gefährt befestigt. Dieses ist mit zwei Kameras ausgestattet und wird in die Kanalisation gesetzt. Die beiden Fischaugenlinsen fotografieren während der Fahrt den Kanal. Daraus ergibt sich eine 360-Grad-Ansicht der abgefahrenen Strecke.

In diesem Kanal an der Limmatpromenade in Baden sei die Methode aber nicht optimal, erklärt Kanal-TV-Operator Timon Leuzinger im Innern des Fernsehwagens. Aufgrund der zwei Fliessrinnen müssten die Aufnahmen doppelt gemacht werden, um ein vollständiges Bild der Kanalisation zu erhalten. In runden Kanälen funktioniere das Kanalfernsehen besser.

Reinigung mit Abwasser

Damit das Wasser ungehindert durch die Kanäle fliessen kann, müssen diese regelmässig gereinigt werden. Verschiedene Apparate können von einem Saugwagen aus gesteuert werden. Dieser «Wasserrecycler», wie Murmann die Maschine nennt, saugt Wasser aus der Kanalisation und reinigt diese damit. Rund 850’000 Franken kostet so ein Fahrzeug.

Dafür gibt es verschiedene Hochdruckdüsen und Apparate, die eingesetzt werden. Zum einen gibt es einen ferngesteuerten Wagen, der mit einer drehenden Spindel ausgestattet ist. Durch rotierende Düsen werden die Tunnelwände gleichmässig gereinigt.

Für grössere Verschmutzungen und den abgelagerten Kies wird eine 57 Kilogramm schwere Düse auf einem Schlitten eingesetzt, erklärt Beat Wächter, der die Kanalinspektion koordiniert. Mit Wasserdruck wird die Düse den Kanal hinaufgedrückt und spült anschliessend beim Zurückziehen Gestein und andere Feststoffe hinunter.

Kleinere Zuleitungen der Kanalisation können beispielsweise mit Kalkdüsen gereinigt werden. Diese spülen die Rohre nicht nur, sondern klopfen dabei auch den Kalk ab. Die unscheinbar wirkenden Metallteile sind mit Technik vollgestopft. Durch Keramikeinsätze, spezielle Dichtungen und Magnetbremsen können sich die Kosten einer Faustgrossen Düse auf 800 Franken belaufen.

Das Abwasser kommt erstmals an die Oberfläche

Wenn dem Abwasser auf seiner Reise nichts im Weg steht, fliesst dieses schliesslich über den 7,5 Kilometer langen Zulaufkanal in die Abwasserreinigungsanlage Laufäcker in Turgi. Hier kommt das Abwasser von rund 60’000 Einwohnerinnen und Einwohnern an, dazu Abwasser aus Industrie und Gewerbe, das etwa der Menge entspricht, die weitere 25’000 Menschen verursachen würden.

Durch verschiedene mechanische und biologische Verfahren wird das Wasser in der ARA aufbereitet. Grobstoffe sowie Sand werden entsorgt, Klärschlamm der Verbrennung zugeführt und Methan ins Biogasnetz eingespeist. Das saubere Wasser wird schliesslich in die Limmat geleitet.

Kurz bevor das Abwasser in die ARA fliesst, tritt es erstmals an die Oberfläche, gleich unter der Kehrichtverbrennungsanlage Turgi. Hier riecht es nun doch beissender, aber deutlich weniger schlimm als erwartet.


-Ursprünglich publiziert in der Aargauer Zeitung vom 1. Juni 2023.

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